Presseartikel

DIE ZEIT, 3. Mai 2007:

Gedränge auf dem toten Gleis

Eine Kleinstadt in NIEDERSACHSEN will eine alte Bahnstrecke stilllegen - und erlebt eine Überraschung. Schienen sind wieder wichtig

VON KARL-FRIEDRICH KASSEL

Bis nach Lüchow gibt es immerhin noch Gleise; gelegentlich töffelt hier noch einmal ein Nostalgiezug über den verkrauteten Schienenstrang. Hinter dem Städtchen im abgelegenen Wendland ist endgültig Schluss. Nur die kühnsten Umweltromantiker träumten noch davon, dass hier, auf diesem schienenlosen Bahndamm, je wieder Züge verkehren würden. Sollte man wirklich bei der Straßenplanung auf solche Überbleibsel aus dem Eisenbahnzeitalter Rücksicht nehmen? Selbstverständlich nicht, fanden einige Lokalpolitiker in Lüchow und regten an, die neue Ortsumgehung quer über den alten Bahndamm zu bauen, ohne Brücke.

Aber, Überraschung, so geht es nicht. Niedersachsens FDP-Wirtschaftsminister Walter Hirche, bislang nicht als Freund des Schienenverkehrs bekannt, wies die Lüchower an, alles zu unterlassen, was zu einer Aufgabe der Bahnstrecke fuhren könnte. Für die endgültige Aufgabe der Bahnstrecke gebe es »nach hiesiger Auffassung keine Gründe«, erklärte das Ministerium.

Aber war das Schicksal all der kleinen Nebenstrecken und Abstellgleise nicht längst besiegelt? Hieß es nicht, die Bahn ziehe sich aus der Fläche zurück und konzentriere sich hinfort auf die lukrative Verbindung der Metropolen? Wie es scheint, ist die Wirklichkeit schon wieder etwas weiter, und der Gemeinderat im abgelegenen Lüchow bekommt den neuen Trend womöglich als einer der Ersten zu spüren. Die Bahn ist wieder da.

Fachleute beobachten diese Entwicklung allerdings schon seit Längerem: Die Kapazitäten der Schiene für den Gütertransport werden knapp. Im Hinterland der Seehäfen und auf den Zufahrtsstrecken der Alpenpässe und -tunnel stauen sich die Waren. Es ist das rasante Wachstum des Güterverkehrs insgesamt, der sich Wege sucht, wo immer sie sich finden, nur um sie alsbald zu verstopfen.

Allein im vergangenen Jahr ist die Transportleistung der verschiedenen Bahntransporteure nach Angaben des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) um mehr als zehn Prozent gewachsen. Erstmals legten die Güterzüge insgesamt die unglaubliche Strecke von 100 Milliarden Kilometer zurück. Insgesamt findet ein knappes Fünftel des Gütertransports auf der Schiene statt, Tendenz steigend.

Besonders stark wächst der Güterverkehr im Hinterland der Seehäfen. Der Hamburger Hafen hat die Masse der umgeschlagenen Güter binnen sechs Jahren verdoppelt. Acht Millionen Standardcontainer im Jahr müssen irgendwie weggeschafft werden, in acht Jahren werden es 18 Millionen sein, und keine Nebenstrecke ist so klein, dass sie dabei nicht ihre Rolle spielen könnte. Und was für Hamburg gilt, trifft auch für andere Seehäfen wie Bremen und - in Zukunft — den Tiefwasserhafen Wilhelmshaven zu. Das ist der Kern der Nachricht, die Lüchows Gemeinderat so überraschte.

Bei der Politik sei dieser Umschwung noch nicht angekommen, sagt VDV-Bahngeschäftsfuhrer Dr. Martin Henke. Ja, es würden Gleise gebaut; bis 2015 soll beispielsweise die neue Y-Trasse fertiggestellt sein, die als Entlastung der völlig überforderten Nord-Süd-Magistrale zwischen Hamburg und Hannover vorgesehen ist. Der Bau eines dritten Gleises bis Lüneburg, die Möglichkeit, zur Not auf die Strecken der Osthannoverschen Eisenbahn auszuweichen - aus Sicht Henkes, der auch im Beirat des Hamburger Hafenbetreibers sitzt, ist das alles viel zu wenig. Mehr als 200 Bauvorhaben zur Erweiterung des Schienennetzes seien notwendig. Vor allem einfach ausgebaute Strecken für den vergleichsweise langsamen Güterverkehr würden dringend benötigt. Stattdessen, beschwert sich das Fachblatt Bahn-Report* seien die knappen Mittel eine Dekade lang in Hochgeschwindigkeitsprojekte gesteckt worden. »Eigentlich«, sagt Henke, »müsste man sofort mit dem Ausbau der Hinterlandstrecken beginnen.«

In Lüchow muss jetzt die Ortsumgehung der Bundesstraße mit einer Brücke versehen werden, damit künftig vielleicht Güterzüge auf der Strecke der Deutschen Regionaleisenbahn (DRE) fahren können. Die Ortsumgehung wird im Bundesverkehrsministerium als »vordringlicher Bedarf« betrachtet. Die Bahnlinie noch lange nicht.